1989
Ein existenzieller Konflikt im Schulheim Aarau, ein tolles Team sowie zwei Betriebsleiterwechsel mit unterschiedlichen Vorzeichen
Im Jahr 1989 erschüttert der wohl schwerste Konflikt der Stiftungsgeschichte das Schulheim Aarau. Ausgelöst wird die Auseinandersetzung durch eine transsexuelle Mitarbeiterin, welche sich endlich ihren jahrelang innigst ersehnten Wunsch erfüllt und sich einer operativen Geschlechtsumwandlung zum Mann unterzieht. An diesem Vorgang scheiden sich die Geister. Ist eine transsexuelle Person in einer pädagogisch orientierten Einrichtung und in einem den christlichen Grundwerten verpflichteten Umfeld tragbar? Ja – meint der Stiftungsrat und auch der Stiftungsleiter. Ja – meint auch ein grosser Teil des Kollegiums. Nein – meint der Aarauer Betriebsleiter und denken etliche beunruhigte Eltern. Im veröffentlichten Jahresbericht ist unter anderem festgehalten:
- „Der Geschäftsführende Ausschuss war und ist der Ansicht, dass die Haltung, die man einem Behinderten gegenüber einnimmt, auch einem psychisch Behinderten zusteht ...“
- „ ... musste der Stiftungsrat zur Kenntnis nehmen, dass die Haltung des Geschäftsführenden Ausschusses nicht überall auf Verständnis stiess ...“
- „ ... wurde der Entscheid vom Betriebsleiter des Schulheims Aarau nicht mitgetragen, der in der Folge kündigte ...“
Aus dieser primär ganz persönlichen Angelegenheit einer Mitarbeiterin entwickelt sich eine unsägliche Dynamik, welche jedem Lehrbuch als exemplarisches Beispiel für eine Konflikteskalation bis hin zu (selbst-)zerstörerischem Verhalten dienen könnte. Vierzehn Eltern schreiben am 27. August 1989 von „Missstimmungen im Schulheim Telli“. Im Zentrum steht eigentlich die Geschlechtsumwandlung einer Mitarbeiterin. Gleichzeitig wird aber auch die nüchterne Atmosphäre an Weihnachten, an Elternabenden und am Maienzug bemängelt. Es ist zudem von angeblicher sexueller Belästigung und Missbrauch im Schulheim die Rede und die gemischtgeschlechtlichen Toilettenanlagen in der Schulanlage kommen ebenso aufs Tapet. Zum Abgang des Betriebsleiters fordern die Eltern Hintergrundinformationen. Ebenso stellen die Eltern die Kandidatur des Stiftungsleiters für den Stadtrat Aarau in Frage. Am 05. September 1989 mischt sich gar die Zeitschrift „der schweizerische Beobachter“ ein und wünscht, über „das weitere Prozedere“ orientiert zu werden. Einzelne Mitarbeitende wenden sich schriftlich direkt an den Stiftungsrat und weisen auf die Überlastungssituation des Stiftungsleiters hin. Mit der Erstattung einer Strafanzeige des zurückgetretenen Betriebsleiters gegen den Stiftungsleiter wegen Veruntreuung erreicht die Krise wohl ihren Höhepunkt. Grosser Respekt gebührt dem Team. Rückblickend halten einige Mitarbeitende im Jahresbericht fest: „Wir haben gelernt, dass in Krisen auch Herausforderungen und Chancen liegen. Erstaunlich war für uns, wie viele Energien dadurch aktiviert wurden.“ Mit Schreiben an die Eltern vom 12. September 1989 stellen die Mitarbeitenden ihren pädagogischen und therapeutischen Auftrag ins Zentrum und halten den Betrieb in grosser Eigenverantwortlichkeit während Monaten auch ohne Betriebsleiter aufrecht.
Was bleibt? Die Strafuntersuchung gegen den Stiftungsleiter endet viel später in einem Freispruch. Für eine Entlastung von der Arbeitsfülle des Stiftungsleiters sucht die Stiftung eine „Assistentin des Geschäftsführenden Leiters“. Dieser erste, dringend notwendige Entlastungschritt löst später eine Organisationsentwicklung aus, welche im Jahr 1994 mit der Bildung einer Geschäftsleitung einen ersten wichtigen Abschluss findet. Den besudelten Ruf der Aargauischen Stiftung für cerebral Gelähmte bekommt das Unternehmen aber noch Jahre später immer wieder in spitzen Bemerkungen und Fragen zu spüren. Erst seit dem Namenswechsel zu „zeka“ im Jahr 2002 (!) erfolgen keine Reaktionen mehr zum damaligen „Skandal“, der eigentlich gar keiner war.
Andere wichtige Ereignisse dieses Jahres drohen beinahe vergessen zu gehen: In Baden übergibt die langjährige Betriebsleiterin Zita Keller nach Abschluss des Langschuljahres die Leitung an Jürg Friedli, um sich wieder ausschliesslich ihrer Aufgabe als Logopädin widmen zu können. Von ihrem riesigen Engagement zeugt die Dokumentation vom Winterlager in Bergün sowie eine gemeinsame Schulwoche mit einer Bezirksschulklasse aus Turgi.
Eine Klasse des Schulheimes Aarau gewinnt an der „1. Schweizerischen Spiele-Erfinder-Messe 1989“ mit ihrem Projekt „Timini“ – einem selbst kreierten Tischminigolf – einen Preis. Unter dem Motto „Zäme unterwägs“ realisieren zwei Schulklassen aus Aarau und Baden eine zweiwöchiges Schullager. Sie reisen mit einem eigens eingerichteten und gestalteten Zug inklusive Speisewagen der SBB von Ort zu Ort und treffen sich in Zofingen, Aarberg und Grenchen mit Schulklassen aus anderen Landesteilen. Im Oktober 1989 berichtet das Fernsehen DRS in der Sendung „Fernrohr“ über dieses aussergewöhnliche Projekt.
Ueli Speich, Stiftungsleiter